Martin Oberbauer - Knobelreisen in 10 Städte - Leseprobe

In der Grachtenmetropole

Obwohl Lana seit ein paar Minuten um die Ecke verschwunden war, stand Judith Grolsch weiterhin auf dem Gehweg vor dem Anne-Frank-Haus und blickte ihr nach. Die Schlange der Wartenden drängte an Judith vorbei in das Haus hinein. Über zwei Jahre lang hatten sich hier die Familien Frank und Van Pels sowie ein Dr. Pfeffer vor der Gestapo versteckt, bevor sie verraten und in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Fünfzehn Jahre war Anne Frank alt gewesen, als sie im KZ Bergen-Belsen starb. Judith Grolsch zweifelte, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, dem Drängen ihrer sechzehnjährigen Tochter nachzugeben und sie einen Nachmittag lang alleine die Stadt erkunden zu lassen. Mama, hatte Lana gerufen, ich bin sechzehn, sechzehn! Mama! Und verschmitzt hinzugefügt: Ich gehe schon nicht verloren, Mama, versprochen. Judith hatte ihre Tochter betrachtet, ihren erwartungsvollen Blick gesehen, und sich plötzlich dreißig Jahre zurückversetzt gefühlt, in ihre Jugend und zu ihrem dringenden Wunsch, frei und unabhängig zu sein. Wegen dieser Erinnerungen hatte sie zugestimmt, ohne über mögliche Folgen nachzudenken. Was sie nun zwar nicht bereute, aber doch für fragwürdig hielt. Schließlich befanden sie sich ja nicht in irgendeiner harmlosen Kleinstadt auf dem Land, sondern in Amsterdam, bekannt für seine Offenheit und Freizügigkeit, die ihnen zu Hause fremd waren.

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